Warum tut man meinem Kind so etwas an? Eine Mutter über ihren Sorgerechtsstreit

22.09.2023 12:49

Simone Wolter hat das Sorgerecht für ihren Sohn Jonas, 12, verloren. Der Junge muss bei seinem Vater leben, obwohl der Mann gewalttätig gegen die Mutter war. Solche Fälle häufen sich vor deutschen Familiengerichten. Was passiert da gerade? Eine Recherche von stern und CORRECTIV.

Von Gabriela Keller

Jonas ist immer da, auch wenn er nicht da ist. So wie jetzt, als seine Mutter in sein Kinderzimmer tritt. Simone Wolter, eine schlanke Frau Anfang 30 mit Jeans und Pferdeschwanz, dreht sich mit dem Rücken zum Fenster und schweigt einen Moment, den Blick gerichtet auf Kisten voll bunter Spielzeugfiguren, Stapel von Comics und große Planetenbilder. "Es ist kaum möglich, die Gedanken abzuschalten", sagt sie in die Stille des Raumes, "weil man ständig Angst hat: Wie geht es ihm? Was macht er gerade? Tröstet ihn jemand, wenn er traurig ist? Wird ihm gerade wieder wehgetan?" 

Die Namen der beiden sind geändert, um die Identität des Jungen zu schützen. Jonas wird in ein paar Wochen zwölf Jahre alt.  

Es ist ein Tag Ende August, ein Montag. Am Abend zuvor hat Wolter den Jungen wieder zu seinem Vater gebracht, wieder habe er sich gewehrt und geweint, wieder musste er doch. Nun wird Simone Wolter ihren Sohn zwölf Tage nicht sehen, zwölf Tage, in denen immer wieder dieselben Fragen in ihrem Kopf kreisen. "Man läuft an seinem Zimmer vorbei und fragt sich: warum?", sagt sie. "Warum tut man einem Kind so etwas an?"

Wolter hat sich vor gut zehn Jahren von ihrem Ex-Partner getrennt, da war das Kind gerade anderthalb. Sie hatte angenommen, dass nun Ruhe bei ihr einkehren würde; es war keine gute Beziehung, sagt sie, spricht von Kontrolle, Zwang und psychischem Druck. Ohnehin kam es ihr vor, als habe sich ihr Ex während der Beziehung wenig für das Kind zu interessiert. Ein Mann, der sie körperlich angegriffen habe – eine Anzeige, ein Attest und ein Platzverweis der Polizei liegen vor. Sogar ein Gewaltschutzverfahren lief, mit Näherungsverbot bis 50 Meter, es gibt Akten dazu, aber all das sei im Familiengericht nicht ins Gewicht gefallen, erzählt Wolter: "Der Richter sagte: Er habe ja dem Jungen nichts getan."

Über sechs Jahre nur Treffen an der Tankstelle

Seit der Trennung sind Wolter und ihr Sohn Teil einer gewaltigen Maschinerie, die mit Umgangsbeschlüssen, Gutachten, Anhörungen und Auflagen in Deutschland in rund 100.000 Fällen pro Jahr versucht, eine Antwort auf die Fragen zu finden: Wer sorgt nach einer Trennung für das Kind? Wer darf es wie oft sehen? Wer kümmert sich und wer bezahlt? Familiengerichte entscheiden auf einem schmalen Grat zwischen Elternrecht und Kindeswohl, und was jeweils den Ausschlag gibt, ist immer neu auszuloten und nie unangreifbar.  

Es gibt Anzeichen, dass diese Maschinerie an einem besonders kritischen Punkt zu falschen Entscheidungen kommt: Derzeit mehren sich Berichte, dass an einigen Familiengerichten Hinweise auf häusliche Gewalt ignoriert, kleingeredet oder schlicht ignoriert werden: Im Juni meldete sich die UN-Sonderberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen, Reem Alsalem, mit einer warnenden Beobachtung: "Die Tendenz von Familiengerichten, die Geschichte von häuslicher Gewalt und Missbrauch in Sorgerechtsfällen vernachlässigen" sei, sagte sie,  "inakzeptabel" und setze Frauen und Kinder Risiken und "immensem Leiden" aus, auch in Deutschland.

Gerade sind gleich zwei Bücher von Berliner Anwältinnen erschienen, die gravierende Missstände im Umgang mit häuslicher Gewalt in der Justiz beschreiben: "Die stille Gewalt" von Asha Hedayati und "Gegen Frauenhass" von Christina Clemm. 

Der Nachmittag bricht an, als Simone Wolter sich an den Küchentisch setzt. Draußen fällt milchiges Licht auf Giebeldächer, gefegte Einfahrten, Buchsbaumhecken, nördliches Bayern, Coburger Hinterland. Wolter hat Aktenordner vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, blättert hin und her, bunte Post-Its kleben zwischen den Seiten. "Wir bekommen keinerlei Schutz von den Behörden", sagt sie. "Ich stehe dem Täter ja immer wieder gegenüber und muss schauen, dass ich nicht in Konflikt mit ihm gerate." 

Sie hat ihren Ex-Partner sechs Jahre lang nur an Tankstellen getroffen, um ihm das Kind zu übergeben. Denn dort gibt es eine Video-Überwachung.

Wachsende Angst vor Papa

Stern und CORRECTIV haben den Vater über seinen Anwalt um Stellungnahme gebeten, die Anfrage blieb unbeantwortet. Das Amtsgericht Coburg teilte mit, dass es sich zu familiengerichtlichen Fällen nicht äußere. Es handele sich um "nichtöffentliche Verfahren, deren durchweg sensible Inhalte nicht an Dritte weitergegeben werden dürfen."

Simone Wolter kam mit Jonas' Vater zusammen, als sie Anfang 20 war, das Kind kam schnell, nach knapp drei Jahren beendete sie die Beziehung. Da sei ihr Ex auf sie losgegangen, habe sie beleidigt, beschimpft, bedroht und geschubst. Er spuckte ihr ins Gesicht und soll ihr die EC-Karte zu ihrem Konto entrissen haben, weil er meinte, da sei noch Geld von ihm drauf. Dabei griff er sie so fest an der Hand, dass das Plastik ihr in die Haut schnitt. Sie sagt, sie habe Angst bekommen und seine Schwester angerufen: "Du, dein Bruder flippt total aus."  

Die Schwester kam, aber später passte ihr Ex-Partner sie erneut ab: Simone Wolter wollte das Kind gerade aus der Kita holen, er folgte ihr, beleidigte sie, schubste und bespuckte sie wieder, sie hielt das Kind auf dem Arm, er soll sie an die Wand gedrückt haben, mit der Hand gegen den Hals. Wolter rief später die Polizei; da ließ er von ihr ab. Ihr Ex hat er die Angriffe teilweise zugegeben, die Aussagen sind belegt. Das Spucken und Beleidigen räumte er ein, das Schubsen und Würgen nicht. Er sagte: Sie habe ihn provoziert.

Die Angst, sagt Simone Wolter, ist sie nicht mehr losgeworden. Es gab immer wieder Vorfälle, Aggressionen, Einschüchterungen, sagt sie: Mal soll er ihr bei der Übergaben des Kindes mit Wucht einen Rucksack entgegen geschleudert haben, mal habe er sie nach Terminen im Jugendamt abgepasst, an ihrem Auto gestanden, sie angegrinst. 

Inzwischen geht jetzt nicht mehr nur um sie. Auch Jonas hat beunruhigende Vorfälle geschildert. "Er hat gesagt, dass sein Vater ihm wehtut", behauptet die Mutter. Was der Junge beschreibt, klingt zumindest nach einer auffällig groben Umgangsweise. Mit Papa mache er nicht viel Schönes. Das Schöne mache er mit der Mama, sagte Jonas in einer Anhörung; das Gericht weiß davon, die Aussagen sind dokumentiert. Auch müsse er allein in seinem Zimmer essen. Beim Papa "gefalle ihm nichts". Einmal soll er ihn von einer Hüpfburg geschubst haben, ein andermal sagte er aus, der Vater habe ihn "auf das Bett gedrückt und dann in den Bauch gezwickt" und auf Nachfrage sagte er, er habe "Angst vor dem Papa."

Schuldumkehr und väterliche Sabotage

Zunächst sah es noch so aus, als würde sich für Simone Wolter alles fügen: In einem ersten Gutachten wurden die Gewaltvorfälle durchaus ernst genommen: Der Junge sei "wiederholt Zeuge von gewalttätigen Eskalationen" geworden, und jede "Form der Gewaltanwendung" zwischen den Eltern erlebe er als "eine Form der Gewalt an sich selbst." Die Mutter sei in der Lage, die "Bedürfnisse des Sohnes feinfühlig wahrzunehmen" und für seinen "Schutz und seine Sicherheit zu sorgen." Der Vater reagiere mitunter "aggressiv" und werde als "grenzüberschreitend erlebt", die Rede ist von einer "lauten Kampfhaltung." Dennoch sei die Mutter "jedes Mal wieder bereit" zum Wohl des Kindes eine Beziehung zwischen ihrem Ex-Partner und dem gemeinsamen Sohn zu ermöglichen. 

Aber dann wendete sich vor Gericht alles gegen sie. Und nun ist es Simone Wolter, die ihr Kind praktisch verloren hat. Der Umbruch begann, als der Junge sich mit der Zeit immer stärker gegen den Vater sperrte. Offenbar gab es einen Streit, er soll den Jungen beschimpft und beleidigt haben. Danach verweigerte sich das Kind; wollte sich nicht einmal mehr von ihm zu den vereinbarten Besuchen abholen lassen. Wolter sagte zu ihm: "Du musst", aber das half nichts, und sie sagt, sie habe ihn nicht zwingen wollen.

Da wandte sich ihr Ex-Partner an das Gericht – und beantragte, dass Jonas gleich ganz zu ihm ziehen muss. Ein neues Gutachten wurde in Auftrag gegeben, und plötzlich stand sie als Quertreiberin da: Der Grund für die Ablehnung des Kindes liege demnach nicht beim Vater – sondern bei der Mutter: Das Gutachten hielt Jonas’ klaren Willen zwar fest, vermerkte aber auch, dieser sei "möglicherweise nicht autonom gebildet" sondern von der Mutter beeinflusst: Wolter zeige "manipulatives Verhalten" sowie "deutlich eingeschränkte Bindungstoleranz" und trage so zur "Entfremdung" des Jungen vom Vater bei. Damit gefährde sie das Kindeswohl, Jonas sei also beim Vater besser aufgehoben.

Simone Wolter sagt, sie habe nicht gegen die Empfehlung angekämpft. "Ich wurde so unter Druck gesetzt", sagt sie, "dann habe ich dem Umzug zugestimmt. Ich hatte Angst, alles zu verlieren. Ich hatte Angst, dass ich mein Kind sonst gar nicht mehr sehen darf." 

Die Begriffe "Bindungsintoleranz" und "elterliche Entfremdung" sind nicht eindeutig definiert – und heftig umstritten. Dahinter steckt die Annahme, die Frau wolle die Beziehung des Vaters zum Kind vereiteln. Bei der Entfremdung wird zudem unterstellt, ein Elternteil beeinflusse das Kind gezielt, um den Kontakt zum anderen zu sabotieren.

Machtlos trotz Widerstand des Kindes

Der Fall von Simone Wolter ist einer von vielen. Die Expertengruppe des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt/GREVIO warnte bereits 2021 vor einer Ausbreitung zweifelhafter Argumente in Familiengerichten, die vor allem Opfern von häuslicher Gewalt zur Last fallen. Sabrina Wittmann, Juristin am Europarat, Abteilung Gewalt gegen Frauen, betont: "GREVIO sagt ganz klar, dass diese Konzepte nicht angewendet werden sollen, weil sie darauf abzielen, die Mutter zu diskreditieren, und das schadet Gewaltbetroffenen, weil es sie im Endeffekt potentiell weiterer Gewalt aussetzt." 

Simone Wolter geriet mit der Zeit immer stärker in die Defensive; den Vorwurf der Bindungsintoleranz wurde sie nicht mehr los. Inzwischen hat sie auch ihr Sorgerecht verloren, und der Vater stellte neue Anträge, ihre Umgänge weiter einzuschränken; vier Monate lang durfte sie das Kind nur unter Aufsicht sehen. "Mein Sohn und ich müssen immer wieder befürchten, dass wir uns gar nicht mehr sehen dürfen", sagt Wolter. "Er hat mich immer wieder gefragt: Warum hört mir keiner zu?"

An einem Tag Anfang Juli traf Jonas die Entscheidung, sich nicht mehr zu fügen. Er ging morgens aus dem Haus, den Ranzen auf dem Rücken, lief aber nicht zur Schule, sondern machte sich auf den Weg zur Mutter. Querfeldein, über Umwege, Schleichwege, damit ihm der Vater nicht mit dem Auto folgen kann. "Er hat extra sein Handy in den Offline-Modus gestellt, um nicht geortet zu werden", sagt Simone Wolter. Drei Stunden lief er, in der Sommerhitze, ehe er ihr Haus erreichte.  

Drei Tage später kam die Polizei, begleitet von Jugendamts-Mitarbeitern und einem Gerichtsvollzieher. Da sich der Junge weigerte, zum Vater zurückzukehren, brachten sie ihn für einige Tage in ein Kinderheim. Er wolle "künftig entweder bei der Mama wohnen, und wenn das nicht möglich sei", dann in dem Heim, sagte er später aus, "jedenfalls nicht bei Papa." Auf die Frage nach seinen Gründen, habe er "unter Tränen" geantwortet, dass die Mama ihn umarme und tröste." Der Vater offenbar nicht. Von ihm wünsche er sich vor allem eines: "Dass er ihn nicht mehr ärgere, er ihn nicht mehr am Speck drücke und ihm nicht mehr wehtue." Danach brachte ihn das Jugendamt doch zu ihm zurück. 

Simone Wolter hat beantragt, dass Jonas wieder zu ihr ziehen darf. Als Grund gab sie den Willen des Kindes an. Damit scheiterte sie, wieder einmal. Denn dieser Wille, argumentierte das Gericht, beruhe "nicht zuletzt auf dem manipulativen Einfluss" der Mutter. 

Quelle