Und so saßen wir neben der DDR – wie Deutschland vor 50 Jahren der Uno beitrat

19.09.2023 11:56

Tricks, Fehler, vertrauliche Absprachen: Der frühere Spitzendiplomat Gunter Pleuger spricht im stern-Interview über die Aufnahme der Bundesrepublik in die Uno vor 50 Jahren – und erinnert sich daran, wie er mal von Helmut Kohl überrascht wurde.

An diesem Montag feiert die Bundesregierung mit einem Empfang in New York den 50. Jahrestag der Aufnahme Deutschlands in die Vereinten Nationen. In der am Dienstag beginnenden Generalversammlung wird Bundeskanzler Olaf Scholz zu den Vertretern der anderen Mitgliedsstaaten reden und vermutlich auch den Reformbedarf der Vereinten Nationen ansprechen.

Deutschland bemüht sich seit Jahren zusammen mit Japan, Indien und Brasilien um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Gunter Pleuger, 82, erlebte die Aufnahme der Bundesrepublik 1973 als Referent an der Ständigen Vertretung in New York. Von 1999 bis 2002 war er Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Joschka Fischer, anschließend arbeitete er bis 2006 wieder bei den Vereinten Nationen, diesmal als Ständiger Vertreter. 

Herr Pleuger, Sie waren von 1970 an in New York und haben den Beitritt Deutschlands zu den Vereinten Nationen mit vorbereitet. Welche Erinnerung haben Sie daran? 
Die Vorbereitungen haben einige Zeit gedauert, so lange hatten wir bei den Vereinten Nationen nur den Beobachter-Status. Die Aufnahme selbst hat dann keine großen Probleme gemacht, weil die Bundesrepublik gemeinsam mit der DDR aufgenommen wurde. Das heißt, die Aufnahme des einen Staates gab es nur mit der Aufnahme des anderen. Deshalb waren eigentlich alle dafür.  

Beide Staaten repräsentierten dann jeweils ein Germany.
Wir wollten, dass beide Staaten bei den Vereinten Nationen nebeneinandersitzen. Die Verteilung der Plätze richtet sich nach den Anfangsbuchstaben des Staates in englischer Sprache. Die DDR hätte demnach unter German Democratic Republic, die Bundesrepublik aber unter Federal Republic of Germany gesessen. Das heißt, bei Germany hätte man auf den ersten Blick nur die DDR gesehen. Wir haben uns deshalb umbenannt in Germany, Federal Republic of. Das steht jedem Staat frei. Und so saßen wir neben der DDR.  

Dem Journalisten Ewald König haben Sie mal erzählt, es habe sogar den Versuch gegeben, Deutsch als sechste Amtssprache neben Chinesisch, Russisch, Englisch, Französisch und Spanisch einzuführen. Woran ist das gescheitert? 
Wir hatten das in New York vorbereitet. Es gab sechs Kanäle für Simultanübersetzungen, aber nur fünf Amtssprachen. Ein Kanal war also frei. Wir haben im Außenministerium in Bonn darum geworben, eine entsprechende Weisung für den Antrag zu erhalten. Wir hatten dafür schon die Zustimmung des UN-Sekretariats und waren optimistisch, auch die nötige Mehrheit in der Abstimmung der Generalversammlung zu erhalten. Aber in Bonn fürchtete man offensichtlich, dass die Abstimmung verloren gehen und die Bundesrepublik sich blamieren könnte. Also hat man darauf verzichtet.  

Haben sich andere Staaten darüber nicht gewundert? 
Ich bin damals einem arabischen Kollegen begegnet. Er fragte mich, wann wir den Antrag stellen würden. Ich antwortete: gar nicht, wir haben keine Weisung erhalten. Daraufhin schaute er mich mit großen Augen an, rannte los und sorgte dafür, dass einige Staaten schon am nächsten Tag den Antrag auf Arabisch als sechste Amtssprache stellten. Mit Erfolg.  

1990 haben die Amerikaner Gespräche für eine Reform des Sicherheitsrats angeboten, mit der Deutschland einen ständigen Sitz hätte bekommen können. Warum? 
Das ging zurück auf den Satz von Präsident George Bush im Frühjahr 1989, noch vor dem Fall der Mauer, er wünsche sich mit der Bundesrepublik eine "partnership in leadership", also eine Partnerschaft bei der Führung des Westens. Nach der deutschen Einheit hat Außenminister James Baker das 1991 konkretisiert, und wir begannen Gespräche mit den USA, Frankreich und Japan, das ebenfalls Interesse an einem ständigen Sitz hatte. Später kamen die Briten dazu. 1996 hatten wir gemeinsam ein Papier über eine Reform fertig, mit dem wir nun Gespräche mit Russland und China aufnehmen wollten.  

Warum hätten China und Russland dem zustimmen sollen? 
Eine Reform des Sicherheitsrates war wünschenswert. Das haben viele so gesehen. Wir wollten für eine bessere Einbindung der Entwicklungs- und Schwellenländer sorgen, was in deren Interesse war. Ich glaube, Russland und China hätten sich einer Reform nicht widersetzt, die erkennbar von der Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten unterstützt worden wäre. Was hätten sie davon gehabt? Sie müssen ja auch sehen, dass die Beziehungen des Westens vor allem zu Russland damals noch viel besser waren als heute.  

Warum kam es dann doch nicht dazu? 
Wir hatten nach unserer letzten Sitzung in Berlin einen fertigen Text. Wir haben uns natürlich gefreut, dass wir nach so vielen Jahren so weit gekommen waren, und bei einem guten Abendessen gefeiert. Am nächsten Morgen stürzte der amerikanische Kollege beim Frühstück auf mich zu und sagte, er fahre sofort nach Hause. Ich habe ihn gefragt, ob er verrückt geworden sei, wir wollten doch jetzt Termine mit Russland und China vereinbaren. Er wunderte sich, dass ich es noch gar nicht wusste, und erzählte mir, der Bundeskanzler habe dem amerikanischen Präsidenten mitteilen lassen, dass er kein Interesse an einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat habe. 

Was war der Grund? 
Nach dem, was mir mein US-Kollege gesagt hat, lautete Helmut Kohls Begründung, er wolle sich nicht "in alle Händel dieser Welt einmischen". Das kam für uns alle völlig überraschend. Aber damit waren die Gespräche natürlich beendet. 

Steckte dahinter die Sorge, Deutschland könnte bei mehr formaler Verantwortung auch militärisch stärker gefordert werden? 
Das kann sein. Aber ich habe mit Helmut Kohl nie darüber gesprochen. 

Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer nahmen später noch einmal einen Anlauf: Gemeinsam mit Japan, Brasilien und Indien bildete Deutschland die G4 und warb für eine Reform, die den vier Staaten einen ständigen Sitz bringen sollte. Sie waren als deutscher Vertreter bei den Vereinten Nationen in New York daran maßgeblich beteiligt. Warum ist das gescheitert? 
Das hatte viele Gründe, die auch mit veränderten Machtverhältnissen zu tun hatten. Aber ein Grund war schon auch, dass wir mit dem Verzicht Kohls unsere Glaubwürdigkeit beschädigt hatten. Man kann nicht so viele Jahre mit allen möglichen Staaten verhandeln und dann plötzlich die ganze Sache abblasen. Der amerikanische Kollege, der mich über Kohls Verzicht informiert hatte, sagte mir damals schon: Gunter, das kannst Du jetzt vergessen. Die Chance kommt so nicht noch einmal.  

Die jetzige Bundesregierung sagt, Deutschland als zweitgrößter Beitragszahler der Vereinten Nationen erhalte den Anspruch auf einen ständigen Sitz aufrecht. Sehen Sie irgendeine Chance, dass es doch noch klappt? 
Nein, im Moment nicht. Es gibt auch keine wirkliche Initiative. Und selbst wenn es eine gäbe, sind die Machtverhältnisse doch so verändert und die Beziehungen zu Russland und China so verhärtet, dass ich da keine Bewegung sehe. 

Verlieren die Vereinten Nationen dadurch nicht noch weiter an Bedeutung?
Das würde ich nicht so sagen. Angesichts der internationalen Probleme sind die Vereinten Nationen nötiger denn je. Aber wenn bedeutende Staaten nicht an den Entscheidungen beteiligt sind, wird es schwieriger, Lösungen zu finden und umzusetzen.

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